31

Es dauerte eine Weile, bis das Nachbeben der Bombe abklang, die Tegan hatte platzen lassen. Während Kade und seine Kriegsgefährten über Satellitentelefon Lucan im Hauptquartier des Ordens über die diversen Entwicklungen mit Katastrophenpotenzial in Alaska informierten, war Alex die ganze Zeit über in Jennas Schlafzimmer bei ihrer Freundin geblieben.

Sie machte sich Sorgen um Jenna, und Kade wusste es.

Alex hatte versucht, mit Tegan darüber zu debattieren, dass es nicht fair wäre, Jenna aus ihrer Welt in Harmony herauszureißen und nach Boston zu verfrachten, als hätte Jenna in dieser Sache gar nichts mitzureden. Aber Tegan ließ sich nicht umstimmen. Ebenso wenig wie Lucan, nachdem der Ordensführer erfahren hatte, dass Jenna Tucker-Darrow plötzlich eine Sprache sprach, die weder von diesem Planeten stammte noch seit Jahrhunderten auf ihm zu hören gewesen war.

Eine Sprache, die nur von den wenigen, wirklich uralten Stammesangehörigen überhaupt noch verstanden wurde, und der Orden hoffte, dass sie im Kampf gegen seinen Feind Dragos irgendwie nützlich werden konnte.

Alex hatte Jenna nur widerwillig mit Kades Brüdern allein gelassen, als die Zeit für sie und Kade kam, zum Dunklen Hafen seiner Familie aufzubrechen.

Tegan hatte ihr sein Wort gegeben, dass Jenna bei ihnen sicher war. Aber Kade bemerkte, dass es Brocks persönliche Zusicherung war, die Alex'

besorgten Blick am Ende ein wenig entspannte.

„Er wird gut auf sie aufpassen, bis wir wieder zurück sind“, sagte Kade jetzt. Er saß neben Alex im Cockpit ihres Flugzeugs, und sie überflogen gerade das Lichtermeer von Fairbanks ein paar Hundert Meter unter ihnen. Alex hatte dem Krieger auch Luna anvertraut und den Wolfshund zu Jennas Hütte geschickt, bevor sie und Kade gestartet waren. „Du musst dir keine Sorgen machen, Alex. Ich habe das ganze letzte Jahr Seite an Seite mit Brock gekämpft und ihm vertraut, dass er mir den Rücken genauso sichert wie ich seinen. Wenn er dir sein Wort gibt, kannst du dich wirklich drauf verlassen. In besseren Händen könnte Jenna gar nicht sein.“

Das war mehr, als er von Alex behaupten konnte, dachte Kade bitter. Wenn er nicht das Flugzeug gebraucht hätte, um Seths Leiche heim zu seiner Familie zu transportieren, hätte er darauf bestanden, dass sie ebenfalls in Brooks Obhut blieb. Der Empfang, der ihn im Dunklen Hafen seines Vaters erwartete, würde nicht freundlich ausfallen - das wusste er. Das Letzte, was er wollte, war, dass Alex Zeugin seiner Schande wurde oder den Schmerz sah, den er seiner Familie mit seiner Rückkehr bereiten würde, wenn er ihnen Seths Leiche brachte.

Diesen Weg wäre er lieber alleine gegangen, aber ein kleiner Teil von ihm war doch dankbar für ihre Gesellschaft. Egoistisch zog er ein Quantum Trost daraus, dass sie jetzt an seiner Seite war.

Alex durchbrach seine Schweigsamkeit mit einem Seitenblick. „Was ist eigentlich mit den übrigen Leuten in Harmony? Ich hab gehört, wie Tegan sagte, dass er, Chase und Hunter die Lage eindämmen wollen, während wir uns um Seth kümmern. Was genau bedeutet ,die Lage eindämmen'? Sie werden in der Stadt doch ... keinem wehtun, oder?“

„Nein. Niemand wird verletzt“, sagte Kade. Er war bei der Diskussion mit Lucan und den anderen dabei gewesen, in der sie ihre Strategie für die Beendung ihrer Mission in Alaska festgelegt hatten. „Weißt du noch, als du gesagt hast, du würdest dir wünschen, dass man Jennas Erinnerung an den Ältesten und ihre Erlebnisse mit ihm einfach ausradieren könnte?“

Alex warf ihm einen ungläubigen Blick zu, als es ihr dämmerte. „Du meinst die ganze Stadt? Das sind fast hundert Leute in Harmony. Was haben Tegan und die anderen vor - alle Straßen abgehen und an jede Tür klopfen?“

Kade lächelte, trotz der ernsten Lage, einschließlich des Abgrunds von ungelösten Fragen zwischen ihnen. „Das schaffen sie schon. Wenn Tegan etwas ist, dann effizient.“

Kade sah aus dem Fenster, während unter ihnen die dunkle, gleichförmige Stadtlandschaft mit ihren geräumten Straßen und schneebedeckten Dächern in die schroffe, ausgedehnte Wildnis des Umlands überging. „Die zehntausend Morgen meines Vaters beginnen direkt bei diesem Bergkamm da vorne.

Nördlich von diesem hohen Fichtenwald gibt es eine Lichtung, auf der wir landen können. Von der Lichtung zum Dunklen Hafen ist es nur ein kurzes Stück zu Fuß.“

Alex nickte und steuerte das Flugzeug dorthin. Sobald sie gelandet waren, ging Kade nach hinten zum Laderaum und hob Seths blutige, in die Decke gehüllte Leiche heraus. Er trug das leblose Bündel sorgsam, Seths Gewicht war eine kostbare Last, die er nie wieder spüren würde. Sosehr er auch vorgehabt hatte, seinen Bruder alleine nach Hause zu bringen, musste er sich auf dem Weg zum Gelände des Dunklen Hafens doch eingestehen, dass Alex' Anwesenheit ihn tröstete - er hatte nicht erwartet, dass er das brauchte.

Ernst und entschlossen schritt sie neben ihm her auf den verschneiten Hof der Hauptresidenz. Es musste inzwischen später Vormittag sein, nur noch ein paar Stunden bis Tagesanbruch. Um diese Zeit waren die meisten Bewohner dieses Dunklen Hafens wahrscheinlich in ihren Privatquartieren und schliefen, einige von ihnen auch miteinander.

Vor dem großen Haus, das seine Eltern bewohnten, blieb Kade stehen. In nur wenigen Minuten würde er ihnen Kummer und Schmerz bringen, vielleicht damit ihr Leben zerstören. Genau das, wovor er sie immer hatte schützen wollen, indem er Seths Geheimnis so lange für sich behielt.

„Alles okay mit dir?“ Zögernd blieb Alex neben ihm stehen. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, eine zärtliche, warme Berührung, die ihm mehr Kraft verlieh, als sie ahnen konnte.

Kraft, die er gleich brauchen würde.

Aus dem Inneren des Wohnhauses war das Geräusch von raschen Schritten auf Holzdielen zu hören. Und von irgendwo drinnen rief seine Mutter: „Kir?

Was ist denn, Kir? Was machst du?“

Kades Vater gab keine Antwort.

Die Türen des Haupthauses flogen durch die bloße Willenskraft des älteren Stammesvampirs auf, der jetzt wie ein Sturm über die Türschwelle hinausfegte. Er kam eindeutig aus dem Bett und war nur schnell in ein paar weite Flanellhosen gefahren, bevor er nach draußen stürmte, um sich der Nachricht zu stellen, die kein Vater jemals hören will.

Bei seinem Anblick keuchte Alex erschrocken auf, was Kirs überlebenden Sohn nicht überraschte.

Ein Meter fünfundachtzig muskelbepackte geballte Wut stand wie angewurzelt auf der Veranda des großen Blockhauses. Kirs Dermaglyphen  kochten förmlich in den dunklen Farben von Angst und Wut. Seine grauen Augen brannten bernsteingelb, sie streiften Alex fragend, dann richteten sie sich sengend auf Kade.

„Sag mir, was mit meinem Sohn geschehen ist.“

Noch nie hatte Kade die Stimme seines Vaters zittern hören, nicht einmal in Kirs schlimmsten Momenten. Das Beben in diesem dunklen Bariton fuhr Kade wie eine Messerklinge in die Seele.

„Vater ... es tut mir leid.“

Kir donnerte die Stufen in den Schnee hinunter. Vor Kade und Alex blieb er stehen, streckte zitternd die Hand aus und hob die Decke von Seths Gesicht.

„Oh mein Gott. Nein.“ Erwürgte die Worte hervor, schmerzerfüllt. Dann sah er noch einmal hin, jetzt etwas länger, als wollte er sich dazu zwingen, das Gesicht des Rogue unter dem Leichentuch genauestens zu begutachten. „Ich habe gebetet, dass das nie wieder passiert. Verdammt, nicht einem meiner Söhne!“

„Kir!“ Kade sah auf, als seine schwangere Mutter auf die Veranda trat, ihr seidenes Nachthemd verdeckt von einem großen Anorak, den sie sich in der Eile übergeworfen hatte. Ihr Schritt stockte, als sie Kade mit diesem unverkennbaren Körper auf dem Arm im Schnee stehen sah. „Oh mein Gott.

Oh nein. Oh du lieber Gott, nein! Bitte sag mir, dass das nicht...“

„Bleib zurück“, herrschte Kades Vater sie an. Dann milderte er seinen Ton und sagte mit herzzerreißender Sanftheit: „Victoria, ich bitte dich ... komm nicht näher. Bitte, Liebes, geh wieder rein. Tu, was ich sage. Das sollst du nicht sehen.“

Mit einem Aufschluchzen ging sie langsam zur Haustür zurück und bekam Beistand von Maksim, der auch gerade herausgekommen war. Max nahm ihren Arm, um sie zu stützen, und führte die Gefährtin seines Bruders in den Dunklen Hafen zurück.

„Gib ihn mir“, sagte Kades Vater, sobald sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte und Max und Victoria im Haus waren. „Gib mir meinen toten Sohn.“

Kade übergab ihm Seth und sah zu, wie sein Vater ihn barfuß durch den knöcheltiefen Schnee zur Kapelle des Dunklen Hafens trug, die in der Mitte der Siedlung stand. Dort würde man Seths Leiche, wie es der Brauch war, für seine Bestattung zum nächsten Sonnenaufgang vorbereiten.

Kade spürte, wie Alex die Arme um ihn legte und ihn liebevoll umarmte, doch auch das konnte das kalte Reuegefühl nicht lindern, das an ihm nagte wie ein Geier an einem Stück Aas.

In nur ein paar Stunden würde von seinem Bruder bloß noch ein Häufchen von der Sonne verbrannte Asche übrig sein -genau wie von Kades Platz in seiner Familie.

 

Derweil hatten die Krieger in Harmony alle Hände voll zu tun, die Lage mit den Einheimischen in den Griff zu bekommen, angefangen damit, dass sie mehrere Leichen aus dem Kühlhaus beim Flugplatz und aus der kleinen Klinik der Stadt verschwinden lassen mussten.

„Das Gute an all dem Schnee und der Wildnis hier draußen ist, dass es hier so verdammt viel Schnee und Wildnis gibt“, bemerkte Tegan trocken, als er sich einige Meilen außerhalb in den Wäldern auf einem Forstweg mit Chase und Hunter traf, wo sie mit ihren Schneemobilen auf ihn gewartet hatten.

Sie waren mit der Familie Toms, Big Dave und Lanny Ham aus Harmony rausgefahren und hatten die Opfer des Ältesten in eine Höhle im nahen Gebirge transportiert. Ein paar taktische Schüsse hatten Eis und Geröll vor den Höhleneingang stürzen lassen und ihn sicher verschlossen. Diese Toten würde man erst irgendwann in der nächsten Eiszeit finden.

„Irgendwas Neues von Gideon zu Phase zwei dieser Operation?“, fragte Tegan Chase, der ihre heutige Aktion in der Stadt koordinierte.

„Alles klar“, antwortete Chase. „Gideon hat mit einem gewissen Sidney Charles gesprochen, dem Bürgermeister von Harmony, und ihn darüber informiert, dass die Einheit der Staatspolizei aus Fairbanks in weniger als einer Stunde hier eintrifft, um mit den versammelten Stadtbewohnern zu reden und Aussagen aufzunehmen.“

„Und der gute Bürgermeister ist natürlich kooperativ?“

Chase nickte. „Er hat Gideon erklärt, er werde persönlich dafür sorgen, dass jeder Bürger der Stadt zur Verfügung steht. Sie versammeln sich gerade in der Kirche von Harmony und warten auf uns.“

Tegan kicherte in sich hinein. „Also, was steht an? Einbruch, Vernichtung von Beweismitteln, Manipulation eines Tatorts, Amtsanmaßung, auf einen Schlag das Gedächtnis von hundert Menschen löschen, und das alles vor dem ersten Tageslicht ...“

Chase grinste. „Reine Routine.“

 

Kade war nicht sicher, ob er in der Kapelle willkommen war, wo sich alle Bewohner des Dunklen Hafens eingefunden hatten, um Seth in den letzten verbleibenden Minuten vor Tagesanbruch Lebewohl zu sagen. Er hatte vorgehabt, dem verdammten Ritual komplett fernzubleiben. Aber als es immer näher auf die Mittagsstunde zuging, in der die Wintersonne kurz herauskommen würde, tigerte er in seiner Unterkunft vor Alex herum wie ein eingesperrtes Tier. Schließlich hielt er es nicht mehr aus.

„Ich muss dahin“, platzte er heraus und blieb vor Alex stehen, die auf dem Sofa im Wohnzimmer seiner Hütte saß. „Egal, ob sie meinen, dass ich dazugehöre oder nicht, ich muss dort sein. Für Seth. Und für mich auch. Verdammt, sie sollen alle hören, was ich zu sagen habe.“

Er stürmte aus der Hütte und lief über den gefrorenen Boden zur Kapelle. Der bläuliche, vom bevorstehenden Sonnenaufgang beleuchtete Schnee knirschte bei jedem Schritt unter seinen Stiefelsohlen.

Die Fensterläden des kleinen Holzgebäudes waren zum Schutz vor dem bevorstehenden Tagesanbruch schon fest verschlossen. Im Näherkommen vernahm Kade von drinnen Stimmengemurmel, die leisen Gebete wurden immer wieder von Trauerlauten unterbrochen.

Noch bevor er die Türklinke drückte, konnte er den Paraffingeruch der acht Kerzen riechen, die auf dem Altar brannten, und den angenehmen Duft des parfümierten Öls, mit dem man Seth in Vorbereitung für den Unendlichkeitsritus gesalbt hatte.

Acht Unzen Öl, um ihn reinzuwaschen und zu segnen. Acht Lagen blütenweiße Seide, um ihn zu verhüllen, bevor sein Körper der Sonne übergeben wurde.

Acht Minuten versengende, ultraviolette Sonnenstrahlung für denjenigen, der unter den Lebenden ausgewählt würde, um Seth in den letzten Augenblicken seiner Beisetzung zu begleiten.

„Scheiße“, flüsterte Kade und blieb vor der Kapelle stehen, als ihm die Realität des Ganzen aufging.

Sein Bruder war tot.

Seine Familie trauerte.

Und Kade fühlte sich dafür verantwortlich.

Er öffnete die Tür der Kapelle und trat ein. Fast alle Köpfe schnellten zu ihm herum, manche sahen ihn mitleidig an, andere starrten ihn an wie den Fremden, der er in seinem Jahr beim Orden geworden war.

Alle in der Kapelle waren dem Anlass entsprechend gekleidet: Die Frauen trugen schwarze Kleider und Schleier, die Männer lange schwarze Gewänder mit Gürtel. Seine Eltern entdeckte er in der ersten Bankreihe. Sie standen neben Maksim und Patrice, allesamt in Schwarz und mit erschütterten, blassen Gesichtern, die Augen vor Kummer rot gerändert und feucht. Hätte Seth Patrice zu seiner Gefährtin gemacht, hätte sie als seine Witwe zum Zeichen ihrer Blutsverbindung einen scharlachroten Schleier getragen, sich auf die Lippen gebissen und auf seinem in weiße Seide gehüllten Körper auf dem Altar als letztes Lebewohl ein einzelnes blutrotes Kussmal hinterlassen.

Als Kade so über die feierlichen Traditionen seiner Spezies nachdachte, musste er an Alex denken. Er konnte das Aufblitzen einer Zukunftsvision nicht unterdrücken, in der er  auf dem Beerdigungsaltar lag, mit einem verwandelten, von Blutgier gezeichneten Gesicht unter der weißen Seide wie Seth. Würde Alex ihn dann noch lieben?

Konnte er, nach allem, was sie über ihn wusste, wirklich von ihr verlangen, ihn zu lieben? Konnte er, nach allem, was sie in den letzten Stunden gesehen und gehört hatte, erwarten, jemals wieder ihr Vertrauen und ihre Zuneigung zu erringen?

Und was war eigentlich mit den Leuten, die in dieser Kapelle versammelt waren? Würde seine Familie nicht nur noch reine Verachtung für ihn empfinden, wenn er erst einmal gesagt hatte, was er sagen musste?

Kade wusste es nicht. Und im Moment war ihm das auch verdammt egal. Er ging zum Mittelgang der Kapelle, und ihm war klar, wie deplatziert er in seiner lädierten, blutverspritzten schwarzen Kampfmontur aussehen musste. Die Pistolen und Klingen an seinem Gürtel klirrten, und seine dicken, genagelten Stiefelsohlen hallten dumpf auf dem polierten Holzboden.

Die Miene seines Vaters verfinsterte sich, als Kade in der Kapelle nach vorn ging. Aus den Bankreihen, an denen er vorbeikam, hörte er leise gemurmelte Gebete und geflüsterte Loblieder auf seinen Bruder.

„Immer so ein charmanter Junge, nicht wahr?“, erinnerte sich jemand mit kaum hörbarer Stimme. „Wie tragisch, dass gerade ihm so etwas passieren musste.“

„Seth war der Fleißigere und Verantwortungsbewusstere“, verkündete ein anderes Wispern. „Eines Tages hätte er sich bestimmt ausgezeichnet als Leiter eines Dunklen Hafens gemacht.“

„Armer Kir, arme Victoria, sie müssen untröstlich sein“, bemerkte ein weiterer Trauergast mit gesenkter Stimme, sodass

Kade die Worte im Vorbeigehen kaum verstehen konnte. „Hätte sich jemand vorstellen können, dass ausgerechnet Seth zum Rogue mutiert? Was für ein Jammer und was für eine Enttäuschung für seine Familie.“

„Kir weigert sich, darüber zu sprechen“, kam eine gedämpfte Erwiderung. „Es hieß, er schämt sich so, dass er niemand in die Nähe der Leiche gelassen hat, seit Kade sie heimgebracht hat.“

„Stimmt“, mischte sich jemand anders vertraulich ein. „Wenn Victoria nicht so darauf bestanden hätte, würde Kir überhaupt keine Bestattungszeremonie abhalten. Anscheinend würde er Seth am liebsten einfach ausradieren, als hätte es ihn nie gegeben.“

Kade auf seinem Gang zum Altar im vorderen Teil der Kapelle ignorierte die leisen Mutmaßungen hinter sich. Die Scham und die Missbilligung seines Vaters überraschten ihn nicht. Kir, selbst streng mustergültig und von eiserner Disziplin, hätte niemals einen Rogue in seiner Familie toleriert, geschweige denn offen zugegeben, dass sein Lieblingssohn der Blutgier verfallen war.

Kade schämte sich auch, aber weniger für die Schwäche und die unverzeihlichen Untaten seines Bruders als für sein eigenes Versäumnis, Seth dabei zu helfen, sein Leben zu ändern, bevor es zu spät war.

„Dieser Augenblick gehört meinem Bruder“, begann er zu der Versammlung aus Angehörigen und den übrigen Bewohnern des Dunklen Hafens zu sprechen. „Ich will Seth nicht auch nur eine Sekunde davon stehlen, aber es gibt ein paar Dinge, die ihr alle erfahren solltet. Die ihr alle verstehen müsst, bevor ihr ihn verurteilt für das, was aus ihm geworden ist.“

„Setz dich hin, Kade.“ Die Stimme seines Vaters war leise und monoton, aber seine Augen blitzten gebieterisch. „Das ist weder die rechte Zeit noch der rechte Ort.“

Kade nickte. „Ich weiß. Ich hätte schon verdammt viel früher den Mund aufmachen müssen. Dann hätte mein Bruder vielleicht eine Chance gehabt.

Und wäre vielleicht nicht tot.“

Sein Vater erhob sich von seinem Platz und trat aus der Bank. „Nichts, was du sagst, wird irgendetwas ändern. Also halt den Mund, junge. Lass es sein.“

„Ich kann nicht“, sagte Kade. „Ich trage Seths Geheimnis schon viel zu lang mit mir herum. Und meine eigenen auch. Es ist höchste Zeit, dass ich sie loswerde.“

Kades Mutter blinzelte einen neuerlichen Tränenausbruch fort, eine ihrer schlanken Hände schützend auf ihren gewölbten Bauch gelegt, in dem ein weiteres Zwillingspärchen heranwuchs. „Wovon redest du? Was für Geheimnisse, Kade? Bitte ... ich will es wissen.“

Er sah am missbilligenden Funkeln seines Vaters vorbei in die flehenden, feuchten Augen seiner sanftmütigen Mutter. Vielleicht würde das, was er hier vor all diesen Zeugen zu sagen hatte, eines Tages den Zwillingen helfen, die schon bald mit der gleichen Gabe zur Welt kommen würden - dem gleichen verführerischen, wilden Ruf in sich - wie er und Seth.

Und dann war plötzlich Alex da.

Kades Blick wanderte ans andere Ende der überfüllten Kapelle, wo sie leise eingetreten war und nun in der Nähe der geschlossenen Türen stand. Sie sah ihn unverwandt an, liebevoll und lest zugleich, und nickte ihm unmerklich zu.

Und das war die einzige Zustimmung, die in diesem Raum Bedeutung für ihn hatte.

„Mein Bruder war nicht gesund“, erklärte er der schweigenden Versammlung.

„Seit wir klein waren, hatten wir mit unserer angeborenen Fähigkeit zu kämpfen. Bei jemandem wie dir, Mutter“, sagte er und sah sie an, als er von der ungewöhnlichen Gabe sprach, die sie von ihr geerbt hatten, „ist sie vielleicht eine Stärke. Für Seth und mich ist sie zum Fluch geworden. Es war einfach zu viel Macht für zwei dumme Jungs, die zu arrogant und zu naiv waren, um ihre Konsequenzen zu erkennen. Wir haben die Gabe, die wir von dir geerbt haben, missbraucht. Am Anfang war es nur ein Spiel für uns, mit einem Wolfsrudel durch die Wälder zu rennen, mit ihm zu jagen ... und zu töten. Wir haben uns von dieser Wildheit beherrschen lassen. Und irgendwann habe ich gemerkt, dass Seth nicht mehr aufhören konnte.“

„Oh, mein Sohn.“ Sie rang nach Luft. „Es tut mir ja so leid. Ich hatte keine Ahnung ...“

„Ich weiß“, unterbrach er sie, bevor sie noch mehr Schuld auf sich nahm, die sie nicht traf. „Keiner wusste etwas davon. Es war falsch von Seth und mir, es vor euch geheim zu halten. Und als ich letztes Jahr aus Alaska wegging, habe ich alles noch schlimmer gemacht.“

Kirs Miene verfinsterte sich noch mehr. „Schlimmer? Inwiefern?“

„Seth hat einen Menschen umgebracht.“ Kade ignorierte das entsetzte Aufkeuchen, das durch die Trauergemeinde ging, und richtete den Blick auf seinen Vater. „Er hatte getötet, und ich wusste es. Er hat mir geschworen, dass es ein Versehen war, das sich nicht mehr wiederholen würde. Ich habe ihm nicht geglaubt. Ich wollte ihm glauben, aber dafür kannte ich meinen Bruder zu gut. Damals hätte ich etwas unternehmen müssen. Irgendwie dafür sorgen, dass er es nicht wieder tut. Stattdessen bin ich gegangen.“

Schweigen senkte sich über den Raum, nachdem Kade geendet hatte. Es dehnte sich endlos aus und legte sich ihm wie eine kalte Last auf die Schultern, während er dem schwer zu deutenden Blick seines Vaters standhielt. Kades Mutter versuchte, die schreckliche Stille zu brechen.

„Du musstest gehen, Kade. Der Orden in Boston hat deine Hilfe gebraucht. Du hattest dort wichtige Aufgaben zu erledigen ...“

„Nein“, widersprach Kade mit einem langsamen Kopfschütteln. „Ich war froh, dem Orden beizutreten, aber deshalb bin ich nicht fortgegangen. Jedenfalls nicht in Wahrheit. Ich bin aus Alaska weg, weil ich Angst hatte, genauso zu werden wie Seth. Ich habe meinen Bruder und euch alle im Stich gelassen, um mich selbst zu retten. Ich bin aus rein egoistischen Gründen nach Boston geflüchtet. Das war keine Ehrentat.“

Er sah ans andere Ende der Kapelle zu Alex, und ihre Blicke trafen sich. Sie hörte ihm zu, ohne zu urteilen. Das einzige Augenpaar im Raum, das ihn nicht mit Verachtung oder ungläubigem Erstaunen anstarrte.

„Was Seth getan hat, war falsch“, fuhr er fort. „Er war krank, vielleicht war ihm auch schon nicht mehr zu helfen, noch bevor seine Schwäche ihn zum Rogue werden ließ. Aber er ist trotz allem ehrenvoll gestorben. Denn nur, weil Seth vor ein paar Stunden sein Leben geopfert hat, bin ich noch am Leben.

Aber was noch mehr zählt - am Eingang dieses Raums steht eine schöne, außergewöhnliche Frau. Auch sie lebt nur noch wegen Seths Einsatz in den letzten Minuten seines Lebens.“

Geschlossen drehte sich die Trauergesellschaft nach Alex um. Trotz dieser plötzlichen Aufmerksamkeit und dem einsetzenden neugierigen Getuschel blieb sie völlig ruhig.

„Seth war nicht perfekt“, sagte Kade. „Und ich werde es weiß Gott auch nie sein. Aber ich habe meinen Bruder geliebt. Und ich schulde ihm alles für das, was er heute getan hat.“

„Du machst ihm alle Ehre“, murmelte eine Männerstimme irgendwo links von Kade. Er warf einen Blick dorthin und sah Maksim, der aufgestanden war. Er nickte feierlich. „Du machst uns allen heute alle Ehre, Kade.“

Das Lob seines Onkels - seines Freundes - kam unerwartet und schnürte Kade die Kehle zu. Dann erhob sich weiteres zustimmendes Gemurmel im Raum.

Kir trat einen Schritt vor und legte Kade die Hand auf die Schulter. „Es ist Zeit.

Gleich ist Tagesanbruch, und ich muss Seth in die Sonne bringen.“

Kade schloss die Finger um das dicke, starke Handgelenk seines Vaters. „Lass mich. Bitte ... ich sollte das machen, Vater.“

Er erwartete ein knappes Nein. Einen zornigen Blick seines Vaters, der darauf bestehen würde, die Bürde - und letzte Ehre - auf sich zu nehmen, Seths Leiche in die acht Minuten Sonnenlicht zu begleiten, die der Bestattungsritus des Stammes vorschrieb.

Aber Kir machte keinen Einwand. Er trat einen Schritt zurück und sagte nichts, als Kade seine schmutzige Kampfjacke und den Waffengürtel auszog und beides auf die Holzbank neben sich legte.

Es war mucksmäuschenstill, als er zum Altar ging und sich den eingehüllten Körper seines Bruders in die Arme lud. Dann ging er den Korridor entlang, der in den verschneiten Garten hinter der Kapelle führte, wo am Himmel gerade die Mittagssonne durch die winterliche Dunkelheit brach.

Lara Adrian- 07- Gezeichnete des Schicksals
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